Manchmal hat die U6 in der Station Alte Heide einen kleinen Aufenthalt. Dann war der blaue Erd-Torpedo auf der Strecke zuvor wahrscheinlich einfach zu flink, und in der Alten Heide bekommt er eine Zwangsverschnaufpause verpasst, damit er den Fahrplan nicht überholt. Die maximale Länge der Pause ist von Psychologen und Zeitwahrnehmungsforschern in komplizierten Experimenten mit Kernspintomographen, Radioisotopen und ahnungslosen Versuchs-U-Bahn-Fahrgästen ermittelt worden und überschreitet so gut wie nie 90 Sekunden. Denn nach 90 Sekunden wird der durchschnittliche U-Bahn-Fahrgast ungeduldig und beginnt sich nach einem Sinn des Aufenthaltes zu fragen.
Doch kurz bevor der Fahrer zum Mikrofon greifen und „Gleich geht´s weiter“ durchsagen muss, um zu verhindern, dass das Gemurmel der Fahrgastmasse zu einem Brummen anschwillt und schließlich in Kraftausdrücken wie „Scheiße!“, „Sauerei!“ und „Kruzitürken!“ mündet – kurz bevor die Masse also droht, überzukochen und die U-Bahn in Trümmer zu schlagen, da geht es auch schon weiter: „Zurück bleiben bitte!“. (Wer soll da noch zurückbleiben, nach 90 Sekunden Zeit zum Einsteigen? Werner die Weinbergschnecke? Wenn Weinbergschnecken U-Bahn fahren würden, sie würden in der Alten Heide reinkriechen.)
Diese vertrödelten 90 Sekunden in der Alten Heide, dieser Stillstand in Zeit und Raum – je größer er wird, desto penetranter verschalten sich die Synapsen in den Köpfen der Fahrgäste zu der Frage „Wann geht´s weiter?“, erst unterbewusst und zaghaft anklopfend, schließlich, nach 85 Sekunden, so plakativ, dass sie an den Sehnerven zerren und man beim Lesen dauernd den Konzentrationsfaden verliert.
Und das wegen popliger 90 Sekunden. Viel Zeit? Wenig Zeit? Kommt drauf an. Ist relativ. 90 Sekunden Luftanhalten ist schon ziehmlich lange, für einen Anfänger. Für den Profi ist es erst das erste Zehntel ohne Atmung. 90 Sekunden Autounfall gibt es wohl nicht, aber die wenigen Augenblicke in denen es passiert, bleiben so ereignisgeladen in Erinnerung wie 90 Sekunden die Buckelpiste runterschrubben. Wenn´s was zu melden gibt, macht das Hirn die Schleusentore auf, Schluss mit Inputselektion, alles was reinkommt könnte bei einem Unfall überlebenswichtig sein, die Zeit gerät unter die Lupe.
Soll die Zeit aber nicht zu Honig werden, kann in der U-Bahn in der Alten Heide ein Buch helfen. Falls es fesselnd genug ist und ausreichend Aufmerksamkeit bannt, dass es jene Synapsen, die den Inhalt plastizieren, nicht an die sich tumorig im Hirn ausbreitende Frage „Wann geht´s weiter?“ verliert. Oder Musik. Die muss aber schon richtig gut sein, so mit Gänsehaut und Körperzuckungen, dann ist die Frage nur noch „Wann kommt endlich der Refrain nochmal?“ Antwort: „Däh! Dähdähdäh!“
Gut funktioniert das gehörte Buch. Während man bei dem aus Papier nur einen klitzekleinen Augenmuskel verkürzen muss, um die Aufmerksamkeit fremdgehen lassen zu können, muss man beim Hörbuch schon Arm und Finger bemühen, um den mp3-Pod pausieren zu lassen. Aber einfach dem gesprochen Wort das angeschlossene Ohr zu entziehen geht nicht, da dröhnt es unaufhörlich rein, wohlmöglich noch in spannendem Zusammenhang, und ärgerlich ist es, wenn man den Datenstrom zurückschwimmen muss, weil man plötzlich die Handlung nicht mehr versteht.
Doch neulich gab es in meinem Waggon kein Entkommen für niemand. In der Alten Heide schlüpfte eine Bettlerin in die U-Bahn und kratzte an den vernarbten Gewissen der Fahrgäste. Endlose 90 Sekunden lang.
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Kommentare
„Zurück bleiben
„Zurück bleiben bitte!“. (Wer soll da noch zurückbleiben, nach 90 Sekunden Zeit zum Einsteigen? Werner die Weinbergschnecke? Wenn Weinbergschnecken U-Bahn fahren würden, sie würden in der Alten Heide reinkriechen.)
Hast Du eine Ahnung. Ich hab schon In-letzter-Sekunde-Einsteigeaktionen-auch-nach-90-Sekunden- Aufenthalt erlebt (auch an der Alten Heide), da würde Werner Stielaugen machen.
Die U6 hat stadteinwärts fahrplanmäßig eine gute Minute Aufenthalt. Dazu muss kein Fahrer zu schnell gewesen sein, das ist so ganz einfach gewollt. Diese Minute dient dazu, Verspätungen im Oberflächenabschnitt aufzufangen, wie sie aus vielfachen Gründen vorkommen können: Baustelle Freimann, kommender Brückenabriss am Tatzelwurm, langsamere Fahrt bei schlechter Witterung usw.